Energie aus Biomasse – Flexibilisierung von Kläranlagen

1.1 Kläranlagen und das gute Leben

Kläranlagen sind von großer Bedeutung für das gute Leben! Spontan mag es überraschend klingen, die technische Einrichtung der Kläranlage mit dem „guten Leben“ – einem wichtigen Thema philosophischer Ethik – in Verbindung zu bringen. Der Zusammenhang wird allerdings schnell einsichtig, wenn man bedenkt, dass die zuverlässige und ausreichende Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse zwar keine hinreichende, aber doch notwendige Voraussetzung ist, damit wir unser Leben als gutes Leben bewerten können – und Kläranlagen sind bedeutsam für mindestens drei Grundbedürfnisse:

 

·         Als Menschen wollen wir unbehelligt sein von permanenten und intensiven Belästigungen und Belastungen insbesondere auf sinnlicher und affektiver Ebene. Auch wenn Menschen unterschiedlich stark auf Geruchsbelästigungen reagieren – in aller Regel halten wir Gestank für eine gravierende Beeinträchtigung unseres Wohlbefindens und damit auch des guten Lebens. Ebenso möchten wir so wenig wie möglich Konfrontationen mit Substanzen (z.B. Exkrementen oder faulenden Stoffen), welche die heftige und unangenehme leiblich-affektive Reaktion des Ekels hervorrufen. Wir können schwerlich ein gutes Leben führen, wenn wir uns immer wieder ekeln müssen.

 

·         Als Menschen haben wir ein starkes Bedürfnis (und auch objektiven Bedarf), möglichst wenig in unserer Gesundheit beeinträchtigt und krank zu werden. Zwar darf Gesundheit nicht verabsolutiert werden und ein gutes Leben ist auch mit gewissen, häufig auch unvermeidlichen gesundheitlichen Einschränkungen möglich. Gleichwohl ist ein ausreichendes Maß an Gesundheit ein wichtiges Ermöglichungsgut, um andere Güter erwerben und genießen und damit ein gutes Leben führen zu können. Wer ein gutes Leben für alle ermöglichen will, muss daher auch dafür sorgen, dass vermeidbare Gefahren für Gesundheit und Leben (etwa durch mit Krankheitserregern und giftigen Substanzen belastetes Wasser) systematisch vermieden werden.

 

·         Als Menschen sind wir auf ein ausreichendes Maß an Umweltqualität angewiesen. Auch wenn uns Schadstoffe in Böden, Gewässern und Luft oder auch Störungen von Stoffkreisläufen nicht immer sogleich direkt und spürbar betreffen, können sie auf Dauer doch die Belastungsgrenzen der Ökosysteme so überschreiten, dass der „safe space“ auch für uns Menschen, damit aber unsere Lebensgrundlagen und damit auch die Voraussetzungen eines guten Lebens gefährdet werden. Hinzu kommt ein oft anzutreffendes Bedürfnis, sich an einer möglichst unbeeinträchtigten Natur auch in ästhetischer Weise erfreuen und dadurch beglückende Erfahrungen zu machen. Unzureichend behandeltes Abwasser ist in besonderer Weise geeignet, Umweltmedien, Stoffkreisläufe und Ökosysteme zu beeinträchtigen.

 

Mit Blick auf diese drei, für ein gutes Leben wichtigen Grundbedürfnisse ist ersichtlich, dass die Abwasserbehandlung in Kläranlagen zwar nur einen begrenzten, aber doch unerlässlichen Beitrag zu einem guten Leben leisten – auch wenn uns das im alltäglichen Leben und Handeln (z.B. im tagtäglichen Verwenden und Genießen sauberen Wassers) kaum bewusst ist. Wenn wir die Abflüsse in Küche und Bad oder auch Toiletten nutzen, ist das verschmutzte Wasser nicht nur zügig aus dem Auge (und der Nase), sondern auch aus dem Sinn. Auch für die moderne Abwasserableitung und -behandlung gilt: Das gute Leben in der Moderne ist auf Voraussetzungen angewiesen, derer wir uns oft nicht bewusst sind.

Voraussetzungen für das gute Leben werden erst "ex negativo" bewusst

Wie so oft, wird die große positive Bedeutung von Voraussetzungen für das gute Leben erst „ex negativo“ bewusst – also dann, wenn die Voraussetzungen nicht oder nur mangelhaft gegeben sind.

 

In historischer Perspektive war dies über lange Zeit der Fall. Zwar zählen bauliche und technische Vorkehrungen der Abwasserableitung zu den frühesten Errungenschaften technologischer Entwicklung, von der aber nur eine sehr begrenzte Zahl an Menschen an bestimmten Orten und in bestimmten Phasen der Geschichte profitierte. Zudem verschärften sich die durch unzureichend abgeleitetes und gänzlich unbehandeltes Abwasser entstehenden Probleme durch Urbanisierung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert dramatisch. Der berüchtigte „great stink“, der 1858 das Leben in London unerträglich machte, steht exemplarisch für die zugespitzte Abwasserproblematik, die auch zu gravierenden Gesundheitsproblemen bis hin zu Cholera-Epidemien führte. Abhilfe verschaffte erst die systematische und zügigere Abwasser-Ableitung durch Toiletten und verbesserte Kanalisation, dann aber v.a. die Abwasserbehandlung durch Kläranlagen – für heutige Menschen in den reichen Industriestaaten scheinbar selbstverständlich.

Wie wenig selbstverständlich auch heute und zugleich wie wichtig eine angemessene Abwasserbehandlung ist, zeigt sich in globaler Perspektive: Weltweit werden rund 80% des Abwassers ohne jede Behandlung abgeleitet – mit fatalen Folgen für Umwelt und für Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen. Insbesondere im globalen Süden ist der zuverlässige Zugang zu sauberem Wasser – eigentlich seit 2010 ein von den Vereinten Nationen ausdrücklich formuliertes Menschenrecht – alles andere als selbstverständlich. Ursächlich dafür ist neben Dürren und mangelhafter wasserwirtschaftlicher Infrastruktur nicht zuletzt die unzureichende Abwasserbehandlung. Da diese ein menschenwürdiges und gutes Leben gravierend beeinträchtigen kann, haben die Vereinten Nationen in ihren Sustainable Development Goals (SDG) für das SDG 6 („Recht auf sauberes Wasser“) ein Unterziel definiert, das u.a. die „Halbierung des Anteils unbehandelten Abwassers“ bis 2030 verlangt.

Die Globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen - unter SDG 6 das "Recht auf sauberes Wasser"

Die Bedeutung von Kläranlagen für ein gutes Leben lässt sich also auch so verstehen, dass sie ein Instrument zur Erfüllung grundlegender menschenrechtlicher Ansprüche darstellen. In Deutschland erwächst aus diesem Anspruch ein gesetzlich definierter Auftrag: Kläranlagen sollen als unverzichtbarer Akteur innerhalb der wasserwirtschaftlichen Infrastruktur mit dazu beitragen, „die Gewässer als Bestandteil des Naturhaushalts, als Lebensgrundlage des Menschen, als Lebensraum für Tiere und Pflanzen sowie als nutzbares Gut zu schützen“ (WHG § 1).

Text: Dr. Thomas Steinforth