SWS Studie

3.4 Vernachlässigung der kulturellen Dimension

In Debatten um einen politischen bzw. sozialstrukturellen Umbau der Gesellschaft wird die kulturelle Dimension häufig vernachlässigt und daher leicht von populistischen Bewegungen vereinnahmt. Diese erwecken oft den Eindruck, religiöse oder kulturelle Traditionen zu bewahren. Faktisch verraten sie dabei häufig aber die Werte, die diesen Traditionen zugrunde liegen. Die Kultur bezieht sich auf zwischenmenschliche Dynamiken, die sich an einem bestimmten Ort über eine längere Zeit hinweg manifestiert haben und als relativ stabiles Gefüge Menschen Halt und Orientierung geben. Wer die sozial-ökologische Transformation voranbringen will, muss also diese kulturell geprägten Dynamiken in den Blick nehmen und versuchen, sie dort, wo sie der Transformation förderlich sind, zu nutzen, und dort, wo sie ihr entgegenwirken, zu verändern oder zumindest zu berücksichtigen. Wer z.B. Windräder errichten will, sollte nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Rechte der betroffenen Bevölkerung berücksichtigen, sondern auch verstehen, welche Bedeutung das dadurch veränderte Landschaftsbild für diese besitzt49 – und wer den Fleischverzehr reduzieren will, muss den kulturellen Wert über Generationen gewachsener Essenstraditionen kennen.


Dieses kulturelle Bedeutungsgewebe, in dem sich die Menschen über Generationen fest eingerichtet haben und existenziell-sinnstiftende Bezüge finden, verändert sich langsam, ist somit träge, aber auch tragfähig. Wer dies im Blick hat, kann Traditionen beispielsweise insofern neu verstehen, dass sich der Wert liebgewonnener Fest- und Feiertage nicht so sehr im Waren- oder Fleischkonsum bemisst, sondern dass diese weit größere sinn- und gemeinschaftsstiftende Bedeutung haben. Auch viele religiöse Symbole der unterschiedlichsten Kulturkreise haben oft landwirtschaftliche Bezüge und laden dazu ein, den reichen Erfahrungsschatz vorangegangener Generationen und deren Zugang zu Fragen der Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit neu zu entdecken und dabei voneinander zu lernen.

Unterbleibt dies, kann die kulturelle „Trägheit“ den erwünschten sozialen Wandel mehr bremsen als stabilisieren: Der Wandel gefährdet dann das Orientierungssystem der Kultur, die Menschen fühlen sich verunsichert und in eine entsprechende Blockadehaltung gedrängt. Wer die Transformation verhindern will, kann diese Abwehrreaktion politisch bewirtschaften, indem Rechtspopulist/innen etwa den Kohleausstieg nicht nur als Gefährdung des Wohlstands, sondern auch als Zerstörung der kulturellen Identität von Bergleuten und Bergbauregionen bekämpfen. Da Kultur, und v.a. auch die Religion, die Tiefendimension unseres Erlebens darstellt, sind sie besonders anfällig, emotional instrumentalisiert zu werden.50


Die Vernachlässigung der kulturellen Dimension kann insbesondere dann die Transformation erschweren, wenn der Wandel kulturübergreifend und global angelegt ist. In diesem Fall kann es zu Missverständnissen und Konflikten zwischen den beteiligten kulturellen Perspektiven kommen, insbesondere dann, wenn eine einzelne kulturelle Perspektive die anderen dominiert. Letzteres ist erstens ungerecht, da es verhindert, die unterschiedlichen Perspektiven fair an der Gestaltung des Transformationsprozesses zu beteiligen. Zweitens können dann wichtige Potenziale der Transformation nur mangelhaft genutzt werden. Dies zeigt sich z.B. dann, wenn Quellen und Formen von Wissen, die nicht dem akademischen Wissenschaftsverständnis entsprechen (praktisches Anwendungswissen ebenso wie indigenes Wissen oder von Menschen mit Migrationshintergrund) zu wenig wahr- und ernstgenommen werden. Viele wertvolle Einsichten (etwa hinsichtlich der Verbundenheit aller Lebewesen oder über andere Vorstellungen eines guten Lebens) bleiben durch die Dominanz eines einzelnen, wichtigen, aber nicht umfassenden Verständnisses von Wissen und Wissenschaft ausgeblendet und ungenutzt.